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Lynn Parker, CNN: Wie ist man eigentlich auf die Bezeichnung ‚Singularität‘ gekommen?
Mehti Jolenka, Astronomisches Observatorium Kapstadt: Das habe ich mich auch schon gefragt. Wir Astronomen bezeichnen damit eigentlich Gegebenheiten, bIei denen physikalische Gesetze nicht definiert sind, wie zum Beispiel bei einem Schwarzen Loch. In diesem Fall aber gelten die Gesetze sehr wohl. Ich glaube, wir haben es hier mit einer etwas unscharfen Analogiebildung zu tun. Gemeint ist wohl, dass es sich um ein singuläres Ereignis handelt.
L. P.: Singulär, inwiefern?
M. J.: Ohne Beispiel in der Erdgeschichte und einzigartig in der Geschichte der Menschheit. So etwas erlebt man nur einmal.
L. P.: Warum nur einmal?
M. J.: Wenn die Entwicklung sich nicht umkehrt, wird es bald keine Menschheit mehr geben.


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Providence, Rhode Island, USA

Irgendwann war die Stadt bunt geworden, und keiner hatte es gemerkt. Männer in Overalls hatten eines Abends Gerüste errichtet, Atemmasken aufgesetzt und aus Kanistern ihre Mixturen versprüht, und eh man sich versah, waren sie mitsamt der Gerüste wieder verschwunden. Zurückgeblieben waren die Farben: Kotzgrün, Quietschgelb und verschiedene, mehr oder minder aggressive Varianten von Rot. Warum ausgerechnet diese Farben und nicht irgendwelche anderen, die kein Augenflimmern zur Folge hatten und das ästhetische Empfinden nicht verhöhnten? Das wussten allein die Ingenieure und Techniker in ihren unter Erdwällen verborgenen Hightech-Fabriken – Designer und Architekten waren beim Prozess der Entscheidungsfindung unübersehbar außen vor geblieben. Oder aber es gab in besseren Gegenden andere, schönere, teurere Farben, und hier handelte es sich um einen typischen Fall von Downgrading.
Hinter den Fassaden hatte sich nichts geändert, jedenfalls nicht zum Guten. Sie versteckten die gleichen verkommenen und immer weiter verkommenden Wohnungen und deren Bewohner, falls die Wohnungen überhaupt noch bewohnt waren. Von der äußerlichen Verwandlung bekamen sie nur wenig mit. Der Blick auf ihre eigene Fassade war ihnen naturgemäß verwehrt, der Blick auf die gegenüberliegenden Fassaden durch mehrere Schichten aufgeklebtes Toilettenpapier oder nahezu undurchsichtige wärme- und strahlungsdämmende Folie eingeschränkt. An den Folienfenstern konnte man abzählen, wer Arbeit hatte. Schutz war teuer, und das galt nicht nur für Folien.
Die Farben waren umsonst gewesen, denn sie lieferten Strom, und je kräftiger die Sonne schien, desto mehr davon. Der Strom wurde an die Hausbewohner verkauft und speiste deren Klimaanlagen und ihren Gerätepark, und wenn sie die Rechnung nicht mehr bezahlen konnten, wurde ihnen der Strom abgestellt und ins Große Netz eingespeist, das ihn an die Fabriken weiterleitete, die Solarfarbstoffe, IceSuits, Kühlelemente usw. herstellten. Die bunten Fassaden waren ein Nebeneffekt, der Hoffnung signalisieren sollte. Aber niemand glaubte die Botschaft, denn es gab keine Hoffnung mehr.

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Not macht erfinderisch, lautet ein altes Sprichwort. Rudger Zegg konnte das bestätigen. Zwei Plastikrohre, eine Handvoll Metallschrott, ein kaputtes Fernglas, ein paar Spiegel - und fertig war das Periskop.
Rudger saß im Halbdunkel seines Arbeitszimmers. Auf den OLED-Tapeten hatte er auf engstem Raum die verschiedenartigsten Vegetationszonen miteinander vereint: Dschungel und Wüste, Polarkreis und Hochwald, Steppe und Gebirge. In letzter Zeit zog er das Meer allerdings der Wüste vor. Sein Arbeitsplatz mit dem halbrunden Schreibtisch, von dem aus er in den Zeiten, da die Stromversorgung funktionierte, seine Downgrading-Jobs erledigte und das Periskop bediente, stand dicht an der Wand neben der Tür, sodass er einen guten Blick auf die landschaftlichen Attraktionen hatte. Außerdem gab es in dem Raum noch ein kniehohes Regal, das die Rundumsicht kaum beeinträchtigte, und ein Sofa für das Nickerchen zwischendurch. Hin und wieder, wenn er Streit mit Venice hatte oder einfach nur allein sein wollte, schlief er darauf.
Der Raum lag unter dem Gehsteig und ragte bis in den Fahrbahnbereich. Noch ehe die oberen Geschosse wegen der Klimatisierungs- und Dämmprobleme nahezu unvermietbar wurden, hatte der Hausbesitzer in weiser Voraussicht die Kellerräume ausgebaut, ohne sich um Grundstücksgrenzen oder Bauvorschriften zu scheren. Er hatte auf illegale Arbeiten spezialisierte Baufirmen beauftragt und einfach losgelegt. Die mit aktiven Bildwänden ausgestatteten Kellerräume vermittelten den zahlungskräftigen Bewohnern das Gefühl, eine intakte Naturoase zu bewohnen. Eine Zeitlang brachten die Basements gutes Geld. Als es schlimmer wurde und die Zahlungskräftigen sich nach Norden absetzten, war Rudger mit Venice auf der Flucht vor der Hitze und der schwächelnden Infrastruktur von L.A. hierher nach Providence, Rhode Island gekommen. Da waren die Hauspreise und die Mieten schon erschwinglich gewesen. Jetzt waren sie für das, was in der Stadt noch funktionierte, schon wieder zu hoch. Ein nostalgisches Rudiment von Bürgerehre veranlasste sie, dem Hausbesitzer, der sich ebenfalls in den kanadischen Norden abgesetzt hatte und an einem der gigantischen Neubauprojekte in den Northwest Territories beteiligt war, wenigstens sporadisch noch Miete zu überweisen. Aber vielleicht war es auch gar keine Nostalgie, sondern eher eine Notwendigkeit – der zum Scheitern verurteilte Versuch, sich einer Normalität zu versichern, die in Auflösung begriffen war.
Rudger schob das Periskop im Führungsrohr bis zur Markierung hoch und sicherte es mit einem Metallstift in der ersten Bohrung. Die mit Staub und angeklebten Glasscherben getarnte Spitze ragte jetzt genau acht Zentimeter aus dem Rinnstein hoch. Er drückte das Auge ans Okular und drehte das Periskop langsam. Das Sehfeld erfasste in flachem Winkel die Straße bis zur Dachrinne des gegenüber liegenden vierstöckigen Hauses. Es war knallgelb. Die Luft über der Straße waberte. Die Fahrbahn war uneben, als dränge der Schotter durch den weichen Asphalt ans Licht. Wegen der Schlaglöcher, von denen einige groß genug waren, um einen chinesischen Kleinwagen zu verschlingen, gab es keinen Durchgangsverkehr. Im Viertel wurden keine Pizzas mehr ausgeliefert, auch die Post hatte die Versorgung schon vor zwei Jahren eingestellt, angeblich aus Sicherheitsgründen. Die wenigen Tagläufer wirkten in ihren reflektierenden IceSuits wie Engelserscheinungen aus einem Albtraum von Himmel. Und wenn es Abend wurde, zischte hin und wieder ein Seg oder eins dieser neumodischen Kreiselzweiräder vorbei, die man abstellen konnte, ohne dass sie umkippten. Das war alles.
Drei Häuser weiter zur Rechten hatte jemand die rote Fahne gehisst, das hieß, er hatte ein Stück Stoff vors Fenster gehängt. Das bedeutete, er brauchte Hilfe. Rudger kannte niemanden in dem Haus und konnte sich nicht aufraffen, dort nach dem Rechten zu sehen. Seine Gewissensbisse, als er das Periskop wieder gegen den Uhrzeigersinn drehte, fielen beunruhigend schwach aus.
Von links geriet ein Hund ins Blickfeld, ein mittelgroßer schwarzer Mischling. Ohne Schutz. Ohne Fell. Er schwankte. Der magere Rumpf war von Geschwüren zernarbt, von der staubtrockenen Nase hing ein Hautfetzen herab. Seine Flanken pumpten wie ein Blasebalg, seine eiternden Augen waren zugeschwollen. Der Hund blinzelte, bekam sie aber nicht auf. Er witterte. Offenbar nahm er mit seinem Geruchssinn den Schatten wahr, der zu dieser Tageszeit die Hitze auf der anderen Straßenseite ein wenig milderte.
Zögerlich setzte er den linken Vorderfuß auf die Fahrbahn. Die Pfote versank in einer Teerpfütze. Als er sie zurückzog, bildeten sich schwarze Fäden, die sich immer weiter dehnten, bis sie rissen. Der Hund schüttelte den Fuß, bekam den Teer aber nicht ab. Dann legte er sich an Ort und Stelle nieder und streckte alle viere von sich, als hätte er sich in sein Schicksal ergeben. Rudger wollte den Linksschwenk bereits fortsetzen, als er bemerkte, dass sich hinter dem Hund die Haustür geöffnet hatte. Die gelbe Fassade war aufgrund ihrer Nanobeschichtung makellos sauber. Umso unangenehmer stachen die mit verblasster Graffiti beschmierte Tür, die demolierten Klingelknöpfe und die an ihrem Kabel herabbaumelnde Überwachungskamera hervor. Seit einem Jahr, als die Hausbewohner in einem erstaunlichen Aufbäumen von Gemeinsinn in einem großen Treck gen Norden entschwunden waren, stand das Gebäude leer. Rudger beobachtete mit einem Anflug von Grauen, wie eine Art Grillzange aus dem dunklen Türspalt hervorgeschoben wurde. Die Zange wurde immer länger, und auf einmal erinnerte er sich, dass das eines dieser Werkzeuge war, mit denen Männer in orangefarbenen Overalls vor der Krise im Park den Müll von Rasenflächen und Gehwegen aufgelesen hatten.
Das Zangenende hatte den Hund erreicht. Die Metallklaue spreizte sich und schloss sich um seinen Hals. Dann wurde der Hund zur Tür gezogen. Ohne Gegenwehr zu leisten, verschwand er in der Dunkelheit des Flurs. Kurz darauf wurde die teerverschmierte Pfote auf die Straße geworfen. Die Tür fiel zu.
Rudger starrte noch eine Weile die geschlossene Haustür an. Dann zog er den Stift aus der Bohrung, fuhr das Periskop ein und ging in die Küche, wo Venice das Abendessen bereitete.
„Sie sind da“, sagte er.
Foto: nst 2015
Leseprobe Morgenröte